Wenn der Körper Angst hat – Angst und Somatisierung

Es beginnt oft mit einem flauen Gefühl im Magen. Ein Ziehen in der Brust. Ein Kribbeln in den Armen. Und plötzlich steht die Frage im Raum: „Ist etwas mit meinem Herzen nicht in Ordnung?“ Die Sorge wächst, der Körper scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Doch bei ärztlichen Untersuchungen bleibt das Ergebnis immer gleich: „Alles in Ordnung.“

Was für viele Betroffene wie ein medizinisches Rätsel wirkt, hat in Wahrheit einen Namen: Somatisierung. Wenn Angst und psychische Anspannung sich nicht vorrangig als Gedanken oder Gefühle, sondern in Form körperlicher Symptome äußern, sprechen wir von somatisierten Angstreaktionen. Diese sind nicht eingebildet, nicht übertrieben, nicht simuliert – sie sind Ausdruck echter, tiefgreifender innerer Alarmprozesse, die ihren Weg über den Körper suchen.

Der Körper als Bühne der Angst

Angst ist ein zutiefst körperlicher Zustand. Was wir gemeinhin als „Gefühl“ bezeichnen, ist neurobiologisch gesehen das Zusammenspiel zahlreicher physiologischer Systeme: Das autonome Nervensystem mit seiner sympathischen Aktivierungsachse, die Stresshormone des Nebennierenmarks, die limbischen Areale im Gehirn – allen voran die Amygdala – reagieren auf Bedrohung mit rasender Geschwindigkeit. Innerhalb von Millisekunden wird der Organismus in Alarmbereitschaft versetzt: Die Atmung beschleunigt sich, der Herzschlag rast, die Muskulatur spannt sich an, die Verdauung verlangsamt sich. Alles dient dem Ziel, Kampf oder Flucht zu ermöglichen.

Was in akuten Gefahrensituationen überlebenswichtig ist, kann bei chronischer oder nicht bewusster Angst zur Belastung werden. Wenn das System im Dauerfeuer bleibt, beginnt der Körper, Signale zu senden. Diese Signale können so intensiv und diffus sein, dass sie mit ernsthaften körperlichen Erkrankungen verwechselt werden – und auch die Betroffenen selbst beginnen, ihrem Körper nicht mehr zu trauen.

Wenn Symptome keinen organischen Befund haben

Die Schwierigkeit beginnt oft in der hausärztlichen oder internistischen Praxis: Menschen mit somatisierten Ängsten haben reale Beschwerden – oft Herzrhythmusstörungen, gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Reizdarmbeschwerden oder Schluckstörungen, muskuläre Verspannungen, Schwindel, Zittern oder Erschöpfung. Doch die medizinische Diagnostik bleibt meist ergebnislos. Für Betroffene ist das doppelt belastend: Sie fühlen sich unverstanden, gleichzeitig aber auch weiter bedroht – denn wo Symptome sind, muss doch etwas sein.

Diese sogenannte „diagnostische Lücke“ führt nicht selten zu einer Odyssee durch das Gesundheitssystem, verbunden mit dem Gefühl, „nicht ernst genommen“ oder „in die Psychoecke“ abgeschoben zu werden. Dabei handelt es sich bei somatisierten Ängsten keineswegs um „eingebildete Krankheiten“, sondern um ein gesamtorganismisches Geschehen – ein Zusammenspiel aus psychischer Belastung, vegetativer Übererregung und oft langjährig eingeübter Körperwahrnehmung.

Angststörungen mit somatischer Dominanz

Besonders häufig treten somatische Symptome im Rahmen bestimmter Angststörungen auf:

  • Panikstörung: Plötzliche, intensive Angstanfälle mit Herzrasen, Atemnot, Schweißausbrüchen und dem Gefühl des Kontrollverlusts oder nahenden Todes.
  • Generalisierte Angststörung: Dauerhafte Anspannung, Sorgen, Schlafstörungen und körperliche Beschwerden wie Muskelverspannungen, Magen-Darm-Probleme oder Kopfschmerzen.
  • Somatische Belastungsstörung (nach DSM-5): Körperliche Symptome, die über sechs Monate andauern und mit erheblichem psychischen Leid einhergehen – unabhängig von medizinischen Befunden.
  • Körperdysmorphe Störung: Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers, verbunden mit Scham, Angst und übermäßiger Kontrolle oder Vermeidung.

All diesen Formen ist gemein, dass sie einen hohen Leidensdruck erzeugen – nicht nur durch die Symptome selbst, sondern auch durch die oft quälende Unklarheit über deren Ursache.

Psychologische Perspektiven auf die Körperangst

Warum aber „verschiebt“ sich die Angst überhaupt in den Körper? Hier lohnt sich ein Blick in verschiedene theoretische Richtungen:

  • Neurobiologisch lässt sich die somatisierte Angst durch eine Fehlkalibrierung interozeptiver Netzwerke erklären. Das Gehirn interpretiert Körperempfindungen als übermäßig bedrohlich – selbst wenn sie harmlos sind. Die Insula, ein Areal für Körperwahrnehmung, scheint dabei überaktiv zu sein.
  • Kognitiv-verhaltenstherapeutisch geht man davon aus, dass Körpersymptome fehlgedeutet werden („Mein Herzstolpern bedeutet, ich werde ohnmächtig“) und dadurch eine Angstspirale entsteht, die die Symptome verstärkt.
  • Psychodynamisch betrachtet, können Körpersymptome unbewusste Konflikte ausdrücken, die sich nicht sprachlich oder bewusst äußern können. Der Körper „redet“ anstelle der Psyche – mit teils eindrucksvoller Symbolkraft.
  • Personzentriert wird der somatisierende Mensch nicht als „symptomatischer Fall“ betrachtet, sondern als jemand, dessen Körper versucht, auf etwas hinzuweisen, was auf der bewussten Ebene (noch) nicht zugänglich ist. Die Symptome sind Ausdruck eines Sinn- und Wachstumsprozesses, der ernst genommen werden muss.

Behandlung: Den Körper zurück ins Vertrauen bringen

Die Therapie somatisierter Angst ist so individuell wie der Mensch, der sie erlebt. Doch einige Grundprinzipien haben sich bewährt:

  1. Psychoedukation: Das Verständnis der körperlichen Angstreaktion ist oft der erste entlastende Schritt. Wenn Klient:innen begreifen, warum ihr Körper so reagiert, entsteht erste Kontrolle – und das Gefühl, nicht verrückt zu sein.
  2. Körperorientierte Verfahren: Progressive Muskelrelaxation, achtsamkeitsbasierte Verfahren oder Biofeedback helfen, den Körper wieder als verlässliches Feedbacksystem zu erleben – und nicht als Bedrohung.
  3. Psychotherapie: Insbesondere verhaltenstherapeutische, psychodynamische oder personzentrierte Ansätze können helfen, unbewusste Zusammenhänge aufzudecken, Körpersymptome zu deuten und Alternativen im Umgang zu entwickeln.
  4. Gestalterische Therapien: Malen, Tonen, Bewegung oder kreative Ausdrucksformen erlauben es, die oft vorsprachlichen Dimensionen der Angst zu bearbeiten – jenseits der rein kognitiven Verarbeitung.
  5. Medikamentöse Unterstützung: In schweren Fällen kann eine vorübergehende Unterstützung durch serotonerge oder dual wirksame Antidepressiva (z. B. SSRI oder SNRI) sinnvoll sein – insbesondere wenn zusätzlich depressive Symptome bestehen. Substanzen wie Pregabalin oder niedrig dosierte Trizyklika kommen ebenfalls infrage, wenn somatische Beschwerden im Vordergrund stehen. Ziel ist dabei immer: Stabilisierung, nicht Sedierung.

Selbsthilfe: Was Betroffene selbst tun können

Menschen, die unter somatisierter Angst leiden, können lernen, ihrem Körper wieder zu vertrauen. Es hilft, regelmäßig in den Körper „hineinzuhören“, aber nicht mit kritischem Blick, sondern mit einer neugierigen, wertschätzenden Haltung. Sanfte Bewegung, gute Schlafhygiene, körperliche Selbstfürsorge, Reduktion von Koffein und Alkohol sowie eine achtsame Ernährung unterstützen den Prozess.

Auch Gespräche mit anderen, Austausch in Gruppen oder Tagebucharbeit können helfen, Symptome einzuordnen und zu entdramatisieren. Wichtig ist dabei stets: Der Körper ist kein Feind – er ist der erste, der merkt, wenn etwas nicht stimmt. Und manchmal ist er der ehrlichste Teil von uns.

Fazit: Der Körper spricht – wir sollten zuhören

Wenn der Körper Angst hat, dann ist das keine Schwäche, sondern ein Signal. Ein Aufruf zur Achtsamkeit, zur Zuwendung, vielleicht auch zum Innehalten. Wer Angst über den Körper spürt, hat oft lange versucht, stark zu sein – und wird nun auf einer tieferen Ebene zum Dialog eingeladen.

Die gute Nachricht: Diese Sprache lässt sich lernen. Und in der therapeutischen Arbeit entsteht oft genau dort, wo der Körper das Wort ergreift, der tiefste Kontakt – zu sich selbst, zur eigenen Geschichte und zu einer neuen, achtsameren Form von Lebendigkeit.

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