Angst ist eines der zentralsten menschlichen Gefühle – sie schützt, warnt, aktiviert. Doch manchmal wächst sie über das hinaus, was sinnvoll erscheint. Sie taucht scheinbar grundlos auf, wird zur ständigen Begleiterin, nimmt Raum und Richtung. Menschen, die unter Angststörungen leiden, beschreiben oft, dass sie sich „von sich selbst entfernt“ fühlen. Dass sie ihre Reaktionen nicht mehr verstehen. Dass sie sich selbst nicht mehr vertrauen. Genau hier setzt der personzentrierte Ansatz von Carl Rogers an – mit einer Theorie, die Angst nicht nur als Symptom, sondern als Ausdruck einer tiefen inneren Diskrepanz versteht. Eine Diskrepanz zwischen dem, was wir wirklich fühlen, und dem, was wir glauben, fühlen zu dürfen.
Angst als Folge einer Selbstentfremdung
In der personzentrierten Theorie entsteht Angst dann, wenn das aktuelle Erleben eines Menschen – seine Gefühle, Impulse, Körperempfindungen – nicht mehr mit dem Selbstkonzept übereinstimmt. Das Selbstkonzept ist unser inneres Bild von uns selbst: „Ich bin freundlich“, „Ich darf keine Fehler machen“, „Ich bin belastbar“. Es ist geprägt von Erfahrungen, aber auch von Bedingungen, unter denen wir gelernt haben, akzeptiert zu werden.
Wenn nun ein gegenwärtiges Gefühl – zum Beispiel Wut, Traurigkeit oder eben Angst – nicht zu diesem inneren Bild passt, entsteht eine Inkongruenz. Und diese Inkongruenz kann – wenn sie stark genug ist – in Angst umschlagen. Rogers beschreibt dies als einen Zustand, in dem das Selbst durch ein aktuelles Erleben bedroht wird. Die Angst ist dann nicht bloß ein Alarmzeichen vor äußerer Gefahr, sondern ein innerer Notruf: „Etwas in mir darf nicht sein – und genau das spüre ich.“
Ein Beispiel: Eine junge Frau hat in ihrer Kindheit gelernt, dass man „nicht weint“ und „immer stark ist“. Sie hat ein Selbstbild aufgebaut, das von Kontrolle und Leistung geprägt ist. Doch in einer belastenden Lebensphase spürt sie immer häufiger emotionale Erschöpfung, Unsicherheit, Überforderung. Diese Gefühle passen nicht zu ihrem Selbstkonzept – und statt sie zulassen zu können, reagiert sie mit Angst: Herzrasen, Panik, das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Die Angst signalisiert nicht eine objektive Gefahr – sondern eine tief sitzende innere Erlaubnisverletzung: „Ich darf nicht so sein, wie ich mich gerade erlebe.“
Die neurophysiologische Ebene: Wenn das emotionale System Alarm schlägt
Auch die Neurowissenschaften beschreiben Angst nicht nur als Reaktion auf äußere Bedrohung, sondern als das Resultat eines komplexen Zusammenspiels zwischen emotionalem Erleben, Körperwahrnehmung und Bewertungsprozessenim Gehirn. Besonders bedeutsam ist dabei das limbische System – mit der Amygdala als „emotionalem Alarmzentrum“ und dem präfrontalen Kortex, der für die Einordnung, Regulation und Beruhigung von Reizen zuständig ist.
Bei Angstzuständen ist die Amygdala oft überaktiv. Sie schlägt auch dann Alarm, wenn keine reale Bedrohung vorliegt. Gleichzeitig gelingt es dem präfrontalen Kortex weniger gut, diese Signale zu regulieren. Neurobiologisch gesehen spiegelt dies genau das wider, was Rogers beschrieb: ein innerer Konflikt, bei dem das aktuelle Erleben (z. B. Schwäche, Hilflosigkeit) vom Selbstbild nicht integriert werden kann – und deshalb vom Gehirn als Gefahr bewertet wird.
Ein weiteres Beispiel: Ein Mann im mittleren Alter hat gelernt, dass „Versagen keine Option“ ist. Als er beruflich ins Straucheln gerät, beginnt er, unter massiven körperlichen Symptomen zu leiden: Atemnot, Herzklopfen, Schlafstörungen. Sein Gehirn nimmt den inneren Zustand – den er nicht ausdrücken oder annehmen kann – als Bedrohung wahr. Seine Angst ist damit nicht irrational, sondern eine Reaktion auf ein unlösbares inneres Dilemma: Entweder er ist „stark und funktionierend“ – oder „unsicher und wertlos“. Ein Sowohl-als-auch scheint nicht möglich.
Die Rolle der Bedingungen der Wertschätzung
In der personzentrierten Theorie sind es die sogenannten „Bedingungen der Wertschätzung“, die darüber entscheiden, ob ein Mensch sein inneres Erleben vollständig integrieren kann – oder sich davon entfremdet. Diese Bedingungen entstehen oft früh in der Kindheit: „Ich werde geliebt, wenn ich brav bin.“ – „Ich werde anerkannt, wenn ich Leistung bringe.“ – „Ich bin okay, solange ich nicht zur Last falle.“
Wenn diese Bedingungen internalisiert werden, kann es später passieren, dass ganze Bereiche des eigenen Erlebens aus dem Bewusstsein ausgeschlossen werden – nicht weil sie unwahr sind, sondern weil sie „nicht sein dürfen“. Angst entsteht dann immer dann, wenn das psychische System spürt, dass etwas Verdrängtes, Unerlaubtes in den Vordergrund drängt.
Ein weiteres Beispiel: Eine junge Mutter fühlt sich oft überfordert und hilflos. Doch ihr inneres Bild sagt: „Ich muss immer liebevoll und geduldig sein.“ Ihre Überforderung wird nicht erkannt – sondern verwandelt sich in diffuse Ängste, Unruhe, Gereiztheit. Erst in einem Raum, in dem sie auch ihre Wut, Erschöpfung und Ambivalenz ausdrücken darf, wird deutlich: Die Angst war der Wächter eines verbotenen Gefühls.
Angst und Körper – die Sprache des Unintegrierten
Angst äußert sich oft körperlich: Druck auf der Brust, weiche Knie, flacher Atem, Schwindel. Neurobiologisch erklärt sich das durch die Aktivierung des autonomen Nervensystems – speziell des Sympathikus, der den Körper auf Flucht oder Kampf vorbereitet. Doch auch hier zeigt sich das, was Rogers auf psychologischer Ebene beschrieb: Der Körper übernimmt das, was sprachlich oder bewusst nicht zugelassen werden kann.
Ein weiterer Fall: Ein Schüler erlebt in der Schule immer wieder Panikattacken. Niemand versteht warum – er ist gut vorbereitet, fleißig, leistungsstark. Erst in der therapeutischen Begleitung zeigt sich: Seine Angst hängt nicht mit dem Stoff oder der Prüfung an sich zusammen, sondern mit dem inneren Druck, „nicht enttäuschen zu dürfen“. Sein Körper rebelliert dort, wo Worte fehlen.
Was bedeutet das für die Therapie?
In der personzentrierten Psychotherapie geht es nicht darum, die Angst „wegzumachen“, sondern darum, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem das bedrohte Selbst sich zeigen darf – ohne Bedingungen, ohne Urteil. Indem Gefühle, die lange ausgeschlossen waren, wieder ins Erleben integriert werden, kann das Selbst neu wachsen. Die Angst verliert ihre Bedrohlichkeit, wenn sie nicht länger gegen das eigene Selbstbild kämpft.
Ein letztes Beispiel: Eine Frau mit langjähriger Angststörung beginnt in der Therapie zum ersten Mal, über ihr inneres Gefühl von Wertlosigkeit zu sprechen – etwas, das sie sich vorher nie erlaubt hatte. Im Laufe der Gespräche erkennt sie, dass ihre Angst immer dann am stärksten wurde, wenn sie sich zeigen wollte. Jetzt lernt sie, sich mit all ihren Seiten zu erleben – auch mit den unsicheren, verletzlichen. Ihre Symptome werden weniger. Nicht, weil sie bekämpft wurden, sondern weil sie gehört wurden.
Angst ist kein Fehler, sondern eine Botschaft
Aus personzentrierter Sicht ist Angst nicht das Problem – sondern ein Hinweis auf ein inneres Erleben, das nicht sein darf. Sie entsteht dort, wo das Selbst sich nicht mit dem deckt, was erlebt wird. Wenn wir in der Therapie einen Raum schaffen, in dem genau dieses Erleben wertgeschätzt, gehört und angenommen wird, entsteht die Möglichkeit zur Integration. Und mit dieser Integration kehrt oft auch Ruhe ein – nicht, weil das Leben einfacher wird, sondern weil man mit sich selbst wieder im Einklang ist.
Angst ist dann nicht mehr der Feind – sondern ein Wegweiser zurück zu sich selbst.