Viele Menschen kennen das Gefühl: Der Magen zieht sich zusammen bei Angst. Das Herz klopft heftig, wenn man nervös ist. Die Stimme versagt in belastenden Situationen. Solche Reaktionen sind normal – sie zeigen, wie eng Körper und Psyche miteinander verwoben sind.
Doch was, wenn die Symptome bleiben, obwohl medizinisch alles „in Ordnung“ scheint? Was, wenn Rückenschmerzen, Durchfall oder Herzstolpern chronisch werden – ohne organische Ursache? In solchen Fällen sprechen wir von psychosomatischen Beschwerden.
Was bedeutet psychosomatisch?
Das Wort „psychosomatisch“ stammt aus dem Griechischen: psyche (Seele) und soma (Körper). Psychosomatisch bedeutet also nicht: „eingebildet“ oder „nur psychisch“, sondern beschreibt die reale körperliche Auswirkung seelischer Belastung.
Psychosomatik ist ein eigenständiger Bereich der Medizin und Psychotherapie, der erforscht, wie psychische Faktoren körperliche Funktionen beeinflussen – und umgekehrt. Dabei stehen bio-psycho-soziale Wechselwirkungen im Mittelpunkt.
Typische psychosomatische Beschwerden
Psychosomatische Beschwerden zeigen sich in allen Organsystemen – oft hartnäckig, wechselnd, und schwer einzuordnen. Häufige Erscheinungsformen sind:
- Magen-Darm-Beschwerden: Reizdarm, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Durchfälle ohne Infektion
- Herz-Kreislauf-Symptome: Herzrasen, Blutdruckschwankungen, Brustenge
- Atmung: Kloß im Hals, Kurzatmigkeit bei Stress
- Schmerzsymptome: Spannungskopfschmerzen, Rückenschmerzen, Fibromyalgie
- Urogenitaltrakt: Blasenreizungen ohne Infekt, Libidoverlust
- Haut: Juckreiz, Ausschläge, Neurodermitis-Schübe
- Schlafstörungen, Erschöpfung, Benommenheit, Muskelzittern
Beispiel:
Eine 42-jährige Frau klagt über wiederkehrende Durchfälle, Magenkrämpfe und Übelkeit – seit Jahren. Trotz mehrfacher Magenspiegelung und Laktosetest bleibt die Diagnose unklar. Erst in der psychotherapeutischen Anamnese zeigt sich: Die Beschwerden traten mit dem Burnout ihres Partners auf. Sie fühlt sich seitdem allein verantwortlich für zwei Kinder und die Pflege der Eltern – unter permanenter innerer Anspannung.
Wie entstehen psychosomatische Beschwerden?
Die Ursachen sind multifaktoriell. Besonders häufig sind folgende Einflussfaktoren:
- Anhaltender Stress oder chronische Überlastung
- Nicht ausgedrückte Emotionen (z. B. Wut, Angst, Trauer)
- Traumatische Erfahrungen
- Frühe Bindungsverletzungen
- Konditionierte Körperreaktionen (z. B. Herzklopfen bei bestimmten Orten)
- Fehlende Sprache für das eigene innere Erleben
Neurobiologisch spielt das autonome Nervensystem eine zentrale Rolle: Dauerstress führt zu einer Übererregung des Sympathikus, einer chronischen Aktivierung der Stressachsen (v. a. HPA-Achse) und zu einer reduzierten Regulationsfähigkeit durch den Vagusnerv. Diese Dysbalance führt zu vegetativen Beschwerden, ohne dass strukturelle Schäden vorliegen.
Warum werden psychosomatische Beschwerden oft übersehen?
Viele Betroffene durchlaufen eine lange Odyssee an Facharztterminen. Die Diagnostik bleibt oft ergebnislos. Manchmal kommt die Rückmeldung: „Sie haben nichts“ – was die Betroffenen zusätzlich belastet.
Ein häufiger Grund ist, dass die Symptome nicht in die klassische Organmedizin passen, obwohl sie real und belastend sind. Die Folge: Frustration, Hilflosigkeit, zunehmender Rückzug – und eine mögliche Chronifizierung.
Wie kann man psychosomatische Beschwerden behandeln?
Die Behandlung ist interdisziplinär – und beginnt mit Anerkennung und Verstehen. Entscheidend ist: Es geht nicht darum, „Symptome wegzumachen“, sondern darum, den inneren Zusammenhang zu erkennen und den Organismus wieder in ein stabiles Gleichgewicht zu bringen.
1. Psychotherapeutische Behandlung
- Personzentrierte Psychotherapie: Emotionale Verarbeitung, Selbstakzeptanz und innere Stimmigkeit stehen im Vordergrund.
- Verhaltenstherapie: Arbeit an belastenden Gedanken, Verhaltensexperimenten und Stressregulation.
- Tiefenpsychologie: Exploration unbewusster Konflikte, biografischer Belastungen.
- Körperorientierte Verfahren: Wahrnehmungsschulung, Integration des Körpererlebens (z. B. Focusing, Somatic Experiencing)
- und viele mehr
Beispiel:
Ein Mann mit Spannungskopfschmerzen erkennt im Verlauf der Therapie, dass er in Konflikten nie seine Meinung sagt. Das ständige „Zurückhalten“ äußert sich über den Körper. Als er beginnt, seine Grenzen wahrzunehmen und zu formulieren, werden die Beschwerden seltener.
2. Medizinische Mitbehandlung
- Regelmäßige psychosomatisch orientierte Visiten
- Labordiagnostik zur Abklärung somatischer Komponenten
- ggf. psychiatrische Medikation (z. B. SSRIs bei gleichzeitig vorliegender Angstdepression)
- Zusammenarbeit mit Allgemeinmediziner:innen, Gastroenterolog:innen, Gynäkolog:innen etc.
3. Selbstregulation und Lebensstil
- Achtsamkeitsübungen zur Reizregulation
- Biofeedback-Training bei vegetativen Symptomen
- Bewegungstherapie (z. B. ruhiges Ausdauertraining, Yoga, Qigong)
- Körper-Rhythmus stabilisieren: Schlaf, Ernährung, Pausen
Was Sie selbst tun können
Wenn Sie sich in diesen Beschreibungen wiedererkennen:
- Nehmen Sie Ihre Symptome ernst – auch wenn sie medizinisch „nicht greifbar“ erscheinen
- Beobachten Sie, wann Beschwerden schlimmer werden – und was entlastet
- Holen Sie sich Unterstützung: Psychosomatik ist behandelbar
- Schaffen Sie kleine Inseln der Entspannung im Alltag
- Achten Sie auf den Zusammenhang zwischen Gefühl und Körper: Was möchte mein Körper ausdrücken?
Fazit
Psychosomatische Beschwerden sind keine „eingebildeten Krankheiten“, sondern körperliche Ausdrucksformen seelischer Überforderung. Sie sind ernstzunehmend, weit verbreitet – und vor allem: behandelbar.
In der richtigen therapeutischen Beziehung können sie zu einem Zugang zum eigenen Erleben werden – nicht selten der erste Schritt auf einem Weg zu mehr Selbstverbindung und Gesundheit.