Angst und Schmerz – Zwei Seiten derselben Medaille

Angst und Schmerz – Zwei Seiten derselben Medaille

Schmerz ist nicht nur ein physisches Phänomen – er ist eine zutiefst emotionale Erfahrung. Und ebenso ist Angst nicht bloß ein Gefühl – sie ist ein Zustand, der den gesamten Organismus durchdringt. In der klinischen Realität begegnen wir beiden oft gemeinsam: Menschen mit chronischen Schmerzen leiden häufig unter Ängsten, Menschen mit Angsterkrankungen entwickeln nicht selten körperliche Schmerzen. Diese enge Verknüpfung ist kein Zufall. Angst und Schmerz sind biologisch, psychologisch und existenziell tief miteinander verwoben.

Wenn Angst den Schmerz verschärft – und Schmerz die Angst nährt

In der therapeutischen Praxis beobachten wir regelmäßig, wie Angst das Schmerzempfinden verstärken kann. Schon eine leichte Verspannung wird zur potenziellen Katastrophe, wenn die Angst den Körper als unsicher erlebt. Gleichzeitig kann jeder Schmerz – sei er muskulär, viszeral oder neuropathisch – zur Quelle neuer Angst werden: „Was, wenn es etwas Ernstes ist?“ „Was, wenn es nie wieder aufhört?“ So entsteht ein Teufelskreis: Der Schmerz macht Angst. Die Angst verstärkt den Schmerz. Die Aufmerksamkeit bleibt gefangen im Körpersignal.

Neurobiologisch lässt sich diese Dynamik gut erklären: Sowohl Schmerz als auch Angst aktivieren zentrale Areale wie die Amygdala, den präfrontalen Kortex, die insula und das anterior cinguläre Cortex (ACC). Diese Regionen sind nicht nur für das Erleben von Schmerz verantwortlich, sondern auch für seine Bewertung – vor allem für die Frage: „Wie schlimm ist das?“ Wenn Angst das Bewertungssystem dominiert, wird ein moderates Schmerzsignal zur gefühlten Bedrohung.

Schmerz als Schutz – Angst als Wächter

Sowohl Schmerz als auch Angst haben ursprünglich eine klare biologische Funktion: Sie warnen uns vor Gefahr. Schmerz schützt den Körper vor weiterer Schädigung, Angst schützt vor riskantem Verhalten. Doch wenn diese Warnsysteme überreagieren – etwa durch wiederholte Traumatisierungen, Dauerstress oder zentrale Sensibilisierung – dann verlieren sie ihre Schutzfunktion. Sie werden selbst zum Leiden.

In der chronischen Schmerzverarbeitung spricht man daher häufig von einer zentralen Sensitivierung: Die Schmerzschwelle sinkt, das Nervensystem reagiert übermäßig – selbst auf harmlose Reize. Interessanterweise ist dies auch bei vielen Angststörungen zu beobachten: Schon geringe innere Reize – etwa Herzklopfen oder ein flüchtiger Gedanke – reichen aus, um intensive Angst auszulösen. In beiden Fällen hat das System gelernt, Gefahr zu vermuten, wo objektiv keine besteht.

Angststörungen mit Schmerzsymptomatik – und umgekehrt

Besonders deutlich wird die Verbindung zwischen Angst und Schmerz in folgenden Konstellationen:

  • Generalisierte Angststörung: Hier steht neben ständiger Sorge oft eine muskuläre Grundanspannung im Vordergrund, die zu chronischen Nacken-, Rücken- oder Kopfschmerzen führt.
  • Panikstörung: Brustschmerzen, Engegefühle und Atemnot werden oft als Zeichen eines Herzinfarkts fehlinterpretiert – was zu einer noch stärkeren Angstauslösung führt.
  • Somatoforme Schmerzstörung: Schmerzen ohne klare organische Ursache, die über Monate bestehen und mit starker innerer Anspannung und Kontrollverlust einhergehen.
  • Chronische Schmerzsyndrome (z. B. Fibromyalgie, chronisches Rückensyndrom, viszerale Schmerzsyndrome): Bei vielen Betroffenen bestehen gleichzeitig Angstsymptomatik, depressive Episoden und somatoforme Anteile.

Hier ist es entscheidend, nicht in einem rein somatischen oder rein psychischen Erklärungsmodell zu verharren. Angst und Schmerz bilden kein „entweder – oder“, sondern ein „sowohl – als auch“. Eine gelungene Diagnostik integriert Körper und Psyche, Neurobiologie und Lebensgeschichte, Lebensstil und inneres Erleben.

Therapie: Sicherheit schaffen – im Körper und in der Beziehung

Die Behandlung von Schmerz und Angst erfordert einen integrativen, interdisziplinären Zugang. Zentral ist dabei die Wiederherstellung von Sicherheit – körperlich, emotional und sozial. Menschen mit Schmerzen und Angst erleben oft, dass ihr Körper unzuverlässig geworden ist. Der erste therapeutische Schritt ist daher: Vertrauen wieder aufbauen.

  1. Psychoedukation: Das Wissen um die Verbindung zwischen Angst und Schmerz entlastet. Wenn Patient:innen verstehen, wie ihr Nervensystem funktioniert – und dass ihre Symptome real, aber auch veränderbar sind – entsteht Hoffnung.
  2. Psychotherapie: Ob verhaltenstherapeutisch, psychodynamisch oder personzentriert – Ziel ist immer die Wiedergewinnung von Kontrolle und Kohärenz. Kognitive Modelle helfen bei der Umstrukturierung katastrophisierender Gedanken. Psychodynamische Arbeit bringt emotionale Konflikte ins Bewusstsein, die sich somatisch ausgedrückt haben. In personzentrierter Haltung werden körperliche Schmerzen nicht als Defizit behandelt, sondern als Ausdruck eines tieferen inneren Prozesses verstanden – und als Einladung zu Kontakt, Resonanz und Wachstum.
  3. Körpertherapie und Bewegung: Sanfte Bewegungsformen wie Yoga, Feldenkrais oder achtsamkeitsbasierte Bewegung helfen, den Körper wieder als Ressource zu erleben. Hier geht es nicht um Leistung, sondern um Selbstwahrnehmung und Regulierung.
  4. Medikamentöse Unterstützung: In bestimmten Fällen kann eine medikamentöse Behandlung sinnvoll sein – etwa durch Antidepressiva mit dualer Wirkung (z. B. Duloxetin, Amitriptylin), die sowohl auf Schmerz- als auch auf Angstverarbeitung wirken. Ziel ist jedoch nie die Unterdrückung des Symptoms, sondern die Reduktion der Übererregung und eine begleitende Stabilisierung.
  5. Kreative Therapien: Malen, Musik, Ausdruckstanz oder Poesietherapie ermöglichen einen nonverbalen Zugang zu Schmerz und Angst – insbesondere bei Menschen, denen der Zugang zu Gefühlen schwerfällt oder deren Sprache durch das Leiden erschöpft ist.

Angst lindern heißt auch: Schmerz lindern

Wenn wir in der Behandlung von Schmerz nicht nur das Körpersymptom sehen, sondern auch seine emotionale Tiefe würdigen, öffnen sich neue Wege. Viele Patient:innen erleben bereits durch das „Gesehenwerden“ ihrer Angst und ihrer Schmerzen eine erste Entlastung. Die therapeutische Haltung – nicht pathologisierend, sondern verstehend – ist oft wirksamer als jedes Medikament.

Umgekehrt gilt auch: Wer Angst behandeln möchte, muss den Schmerz ernst nehmen. Denn Schmerz ist oft nicht das Problem – sondern der Ausdruck eines Problems. Und manchmal ist er der einzige Weg, über den das Unaussprechliche hörbar wird.

Fazit: Schmerz ist nicht nur ein Signal – er ist ein Ausdruck

Angst und Schmerz sind mehr als Symptome. Sie sind Signale eines Systems, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wer sie zu unterdrücken versucht, verpasst ihre Botschaft. Wer sie jedoch zu verstehen beginnt, kann heilsame Wege eröffnen – für Körper und Seele zugleich.

In der therapeutischen Begegnung wird dies besonders deutlich: Dort, wo der Schmerz nicht mehr weggeschoben, sondern ernst genommen wird – und dort, wo die Angst nicht mehr isoliert, sondern verstanden wird – beginnt echte Veränderung.

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